Eine Nacht, die alles verändert


Als Karl Holtmann, Küster von St. Servatius, mitten in der Nacht zu einem Todesfall gerufen wird, ahnt er nicht, dass dieser Einsatz weit über die Routine seiner sonstigen Kirchenarbeit hinausgeht.

Ein geschätzter Kollege und Freund ist überraschend verstorben – scheinbar eines natürlichen Todes.

Doch Zweifel keimen auf. Während die Kirche sich auf die Ostertage vorbereitet und interne Machtspiele in der Gemeinde toben, gerät Karl zwischen die Fronten.

Eine junge Frau, die ihn vor unbequeme Herausforderungen stellt, verkompliziert seine Arbeit zusätzlich.

Bald schon wird klar:

In dieser Gemeinde ist nichts so friedlich, wie es scheint – und das Vergangene ist noch lange nicht begraben.


Ein atmosphärischer Krimi über Freundschaft, Glaube, Loyalität und die Schattenseiten eines eher unbekannten dienstleistenden Berufs.



  1. Kapitel


Freitag, 22. März, sehr früher Morgen, ab 0.45 Uhr

 

Spät in der Nacht, gegen ein Uhr, schrillte mein Telefon, und mein Handy summte. Ein Anruf um diese Zeit löst in mir immer noch Alarm aus. Früher bedeutete er: Raus, Junge, aufstehen, unangenehme Situationen warten auf dich! Leichen. Ich arbeitete einst bei einem Bestatter. Das bleibt hängen.

Da ich die Nummer erkannte, wählte ich das Festnetz. Mein jetziger Chef wünschte, mich zu sprechen. Auf allen Kanälen. Wer sonst? Am Handy drückte ich ihn weg. Seine Stimme klang undeutlich, aufgeregt. Er brauche dringend einen Fahrer. Und da kam er natürlich auf mich?

Mein Chef ist der Pfarrer unserer Gemeinde St. Servatius. Ein netter Kerl, aber gelegentlich hilflos. So wie jetzt. Er habe an einer Sitzung teilgenommen, erklärte er, und dabei leider etwas Bier getrunken, so wage er nicht, sich selbst an ein Steuer zu setzen. Doch müsse er dringend zu einem Trauerfall.

Okay. Ich wollte schon auflegen, da ließ er mich wissen, dass ich ihn am Pfarrheim und nicht an seinem Haus, dem Pastorat, abholen solle.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich hastig anzukleiden und hinunter auf die Straße zu eilen. Nachtkühle. Temperaturen wie am Tag, um die 9° Celsius, Äquinoktium. Nicht nur licht-, auch wärmemäßig. Ich startete das Auto.

Pfarrer Wiesche stand schon draußen, vor dem erleuchteten Gebäude, und kletterte rasch auf meinen Beifahrersitz.

»Werde zu einem Todesfall gerufen. Tut mir leid«, seufzte er. »Auch für Sie. Die anderen sitzen noch im Pfarrheim und diskutieren. Wir müssen zu Willi. Willi Neuthal. Seine Nichte schien mir ganz durcheinander. Sie stammelte etwas von einem Gewaltverbrechen. Können Sie sich das vorstellen? Ich nicht.«

Gar nichts stellte ich mir vor. »Was sagt denn Willi dazu?«

»Du lieber Gott, Holtmann! Schlafen Sie noch? Willi ist der Verstorbene!«

Der Schlag traf mich hart, ich blieb aber in der Spur. Ich fuhr, frierend, die Augen verkniffen. Draußen Dunkelheit und vorüberwischende Lichtflecken. Langsam erst begriff ich, dass es meinem Chef nicht leidtat, mich aus dem Bett geholt zu haben, sondern dass offenbar ein Mitarbeiter verstorben war. Einer aus dem Pastoralteam. Ein Pastoralreferent.

»Wissen Sie«, sagte Pfarrer Wiesche niedergeschlagen, »die Kirche, so wie wir beide sie liebten, als wir uns in unserer Jugend entschlossen, für sie zu arbeiten, diese katholische Heimat, die fliegt uns gerade um die Ohren. Daher die nichtöffentliche Sitzung. Daher meine Bereitschaft, Bier mit den anderen zu trinken. Wir versuchen nur noch, das Wenige zu retten, was wir für unsere Gemeinde irgendwie retten können. Und nun verlieren wir auch noch Willi! Armer Kerl. Übrigens, kommen Sie nach Dienstbeginn als erstes in mein Büro. Ich habe eine wichtige und dringende Aufgabe für Sie.«     

Ich kannte sie schon, von Maria, der Pfarrsekretärin. Ich sollte am Montag nach Münster und an der Chrisammesse teilnehmen und dann die heiligen Öle mitbringen.

»Das auch. Nein«, berichtigte mich mein Chef, »Später. Etwas völlig anderes. Da brauche ich Sie. Jetzt aber braucht uns erst einmal Willi oder seine Angehörigen ...«

Vor Neuthals Haus, einem mehrstöckigen, hundert Jahre alten Jugendstilbau, bot sich ein aufwühlendes Bild. Zuckendes Blaulicht. Ein roter Krankenwagen, ein Notarztfahrzeug und ein blau-weißes der Polizei.

Der Hauseingang stand offen, wir stiegen in den zweiten Stock. Auch Willis Wohnungstür war nur angelehnt. Mein Chef drängte hinein. Vorbei an zwei komplett ausgestatteten Sanitätern, die uns entgegenkamen. Ihre schweren Jacken und Geräte wirkten auf mich einschüchternd. Reine Kompetenz. Einer sagte professionell und ruhig zum Pfarrer, da sei nichts mehr zu machen gewesen. Leider. Mein Chef nickte. Mich beachteten sie gar nicht, als ich sie vorbeiließ.

Zwischen Küche und Wohnstube lag, soweit ich das zu sehen vermochte, ein Körper. Verdeckt durch andere Menschen. Zwei Polizisten, ein Notarzt, der gerade seine Sachen packte, zwei Kriminalbeamte und Willis Nichte Lara und ihre Mutter, seine Cousine. Seine Schwester Sonja fehlte. Die Neuthals bilden einen großen Sippenverband, hauptsächlich Frauen, wenige Männer, wer da gerade mit wem paktiert, das erschließt sich mir nicht immer, die Koalitionen wechseln ständig.

Kurz nur sah ich Willis Kopf am Boden, seine Lider weit aufgerissen, sein Blick gebrochen. Nicht mehr das Leuchten in den Augen, dass mir so lebhaft in Erinnerung bleiben wird und das aus ihnen zu strahlen pflegte, immer, wenn Schalke beispielsweise ein Tor erzielte oder wenn ihm, dem Pastoralreferenten, ein Gottesdienst gelang. Ich kann nicht wirklich erklären, woran ich tote Augen erkenne. Ein ehemaliger Bestatter registriert das. An ihrer Nutzlosigkeit vielleicht.

Mir wurde der Weg versperrt. Zwei grimmige Polizeibeamte in Uniform, ausgestattet mit Waffen, Bodycams und Funk, standen vor mir. Unsinnigerweise schoss es mir durch den Kopf, dass Leute, die in der Nacht ihren Job erledigten, heute in unserer Gesellschaft, hochgerüstet daherkamen. Und mich einschüchterten, während sich andere, wie man häufig liest, provoziert fühlen.

Die Streifenpolizisten also. Ein Mann, eine Frau. Sie fragten streng, wer ich sei. Ich kannte sie nicht, man kann nicht jeden kennen. Ich erklärte, der Fahrer des Pfarrers. Daraufhin verwandelten sie sich in müde, nette Menschen. Sie sahen in mir den Kollegen, den man ebenfalls in die Nacht gejagt hatte.

»Kein Fremdverschulden«, teilte mir die Frau mit. »Wir erleben das häufig. Die Angehörigen stehen unter Schock, wenn sie einen ihrer Lieben unerwartet zusammengebrochen in der Wohnung finden. Sie suchen nach Gründen und rufen uns, die Polizei, weil sie sonst etwas vermuten. Kann man verstehen. Der Tod schlägt eben brutal zu. Aber hier scheint die Lage eindeutig. Keine verdächtigen Hinweise. Der Notarzt diagnostizierte klar einen Schlaganfall. Exitus schon vor zwei, drei Stunden.«

»Ich mochte ihn«, erwiderte ich. »Willi. Meinen Kumpel.«

»Unser Beileid«, murmelte die Frau. Der Polizist nickte.

Gerade machten sich auch die zwei Kripobeamten auf den Weg. Sie nickten mir höflich zu und sagten etwas von Bericht schreiben und so weiter. Keine weiteren Ermittlungen. Dann verließen sie die Wohnung, während mein Handy sich meldete. Noch ein Anruf zu dieser frühen Stunde. Unglaublich. Ich trat hinaus auf den Flur.

Es meldete sich Dave, der Besitzer des Irish Pub. Wir mögen uns beide. Er hat von seiner Kneipe aus über die Straße einen wundervollen Blick auf die Kirche und den dazugehörigen Platz. Und als alter Ire achtet er auf sie. Aus lauter Gewohnheit und Erziehung. Er meldete mir verdächtiges Licht im Gotteshaus, volle Beleuchtung. Die Kirchenfenster strahlten mit dem LED-Schein der Straßenlaternen um die Wette. Ob ich nicht mal nachgucken wolle.

Ich erwiderte, später, wenn mein Einsatz hier erledigt sei. Er wusste natürlich nicht, was »hier« bedeutete. Ich erklärte es ihm, worauf er angemessen schockiert reagierte. Am Handy. Willi gehörte zu seinen Stammkunden.

Vielleicht erwischte ich noch schnell die Streife, um sie auf den Weg zu schicken, aber davon wollte Dave nichts hören. Er und die Polizei pflegen ein professionelles, aber eher wohl distanziertes Verhältnis.

Ich fühlte mich ein wenig erleichtert, gestehe ich, dass ich Pfarrer Wiesche und den beiden Damen ihre Privatsphäre bei den Totengebeten gelassen hatte. Als Lara zu mir hinauskam, sah die sonst so taffe, energische junge Frau, gebrochen und geschrumpft aus. Sie wirkte eher wie dreizehn, nicht wie dreißig Jahre. Tränen und Falten durchzogen ihr rotes Gesicht, ihre eigentlich lockigen Haare hingen strähnig schlapp herab. »Diese faulen Idioten«, murmelte sie. »Natürlicher Tod, behaupten sie! Schade, dass ich nicht lachen kann.«

Ich schwieg und berührte sanft ihren Oberarm.

Sie blickte zu mir auf. »Du hilfst mir, Karl? Du wirst es richten, nicht?«

Ich schrak vor wilden Emotionen, vor der Mischung aus Wut, Fassungslosigkeit, Angriffslust und unendlicher Trauer zurück. Nickte aber wortlos. Oder murmelte: »Natürlich.« Mehr auf keinen Fall. Denn ich ahnte nicht im Geringsten, was sie meinte. Hoffte aber, sie dachte an die Trauerfeier.

Auf der Rückfahrt bemerkte mein Pfarrer nur: »Dieser Tod reißt ein großes Loch in meine personelle Planung. Wirklich. Und das zu Ostern!«

Ich stimmte ihm vorbehaltlos zu. Den meisten Menschen erscheint Weihnachten als das größte Fest des Jahres. Für die Kirche aber ist es Ostern. Der ganze Osterkreis, die Kartage und was so noch dazugehört, bedeuten für diejenigen, die die Liturgie vorbereiten und durchführen müssen, die absolute Herausforderung. Fast an jedem Tag schreibt die Gottesdienstordnung eine besondere Feier vor, zu der umfangreiche Vorbereitungen und Planungen gehören. Und jetzt, am Donnerstag vor der Karwoche, fahre ich nachts den Chef, anstatt zu schlafen. Mit der furchtbaren Gewissheit, ein Freund, der uns viele Jahre lang dabei unterstützte, war tot.

Ich gestand Pfarrer Wiesche, dass ich noch mal in der Kirche nach dem

    Rechten sehen müsse, jemand habe verdächtige Bewegungen bemerkt. Ob er nicht eben mit mir nachsehen möchte. Aber er wollte nicht. Er wollte nur noch ins Bett. Die Sitzung und die Sorge und alles. Natürlich.

Ich setzte ihn also rasch an seinem Haus ab, wendete den Wagen, und endlich rollte ich vorsichtig hinüber zum von Straßenlaternen beleuchteten Kirchplatz. Dunkel, nicht hell erleuchtet, wie Dave gemeldet hatte, die Kirche und deren schlanker Turm. Daneben längs der Nordseite der schmächtige, spitzgiebelige Anbau. Unbestimmt grau, fast schwarz, ohne feste Konturen die eng zusammengedrängten Gebäude vor dem nächtlichen Himmel, ein drohender Block, geheimnisvoll, unverständlich, kalt. Das indirekte Licht der Nachtlampen erreichte ihn kaum.

Zum Glück darf ich als einer der wenigen den Platz mit dem Wagen befahren, der ansonsten gesperrt bleibt für den motorisierten Individualverkehr. Ich lenkte um die Kirche herum zum Hintereingang, stieg zögernd aus, der kühle Wind blies mir direkt ins Gesicht. Lust auf eine einsame Expedition fühlte ich nicht.

Beim Pub brannte nur noch die Nachtbeleuchtung, die Kneipe war also bereits geschlossen, von dort durfte ich keine Unterstützung erwarten, falls nötig. Wir hatten zu viel Zeit gebraucht. Verd ... ich sollte nicht fluchen, obwohl Psychologen behaupten, es täte der Seele gut. Also: Verdammt!

Die Glastür öffnete ich mit dem Transponder und betrat den Flur, der sich zwischen der Kirche und dem Sakristei- und Technikbau längs der Außenmauern erstreckt, geschützt von einem Glasdach, durch das die Nacht hereinschaute. Ich schaltete das Licht ein. Und erschrak.

Voraus stand eine Gestalt. Sie drehte sich erschrocken um.

Erleichterung. Denn ich erkannte Jeff. Josef Löhrmann. Unseren Hausmeister. »Was treibst du denn um diese Zeit in meiner Kirche, so dass die Nachbarschaft bei mir Alarm klingelt?«, fragte ich ihn müde.

Er grinste schief. Na, wenn er einen Befehl erhalte, dann erhalte er einen Befehl, nicht wahr, da habe er doch nicht zu diskutieren.

»Befehl?«

Eine Aufgabe halt, eine Arbeitsanweisung. Ich sah sie schon, die Anweisung. Er trug sie in seinen Overalltaschen, die sich beulten.

Jedes Jahr bestelle ich ein Kontingent Ostertischkerzen mit Jahreszahl, gerade so groß, wie die Gemeinde St. Servatius es sich noch leisten will. Sie sind heiß begehrt, die Lichter mit Jahreszahl. Bevor sie aber in den offiziellen Verkauf im Pfarrbüro gehen, versuchen alle möglichen Leute, sich vorher welche zu sichern, wenn sie glauben, ihren Einfluss geltend machen zu dürfen. Das hatte in den letzten Jahren derartige Ausmaße angenommen, dass ich schon leuchtend rote Zettel auf die Kartons geklebt habe: »Finger weg! Die Kerzen sind für die Osternacht und die Ostertage bestimmt.« Fürs Pfarrbüro natürlich auch, aber ich muss ja keine Romane erzählen.

»Wer?«, fragte ich deshalb, ein wenig sauer.

Jeff grinste noch einmal und zuckte die Schultern. »Wer? Die drüben! Die Sitzung soll geheim bleiben!«

Geheim! Manche bilden sich auch was ein. Aber Jeff hatte natürlich recht. Eine oder einer aus dem Kirchenvorstand vermutlich, nutzte die Lage aus. Unser Hausmeister konnte sich schlecht weigern, deren Bitten nachzukommen. Ärgerlich, diese Undiszipliniertheit und dieser Egotrip einiger Leute, die immer, und immer, ihre Sonderstellung für sich ausnutzen müssen. In der Kirche geht’s halt zu wie in jeder anderen Firma auch.

Ich wünschte mir mein Bett. »Also brauch’ ich also nicht mehr nachsehen, ob da jemand durchs Schiff schleicht?«, fragte ich.

»Vergiss es!« Jeff wirkte ungewohnt verlegen. Als hätte ich ihn ertappt, wie er selbst durch den Kirchenraum streifte, um Unsinn anzustellen, obwohl er doch nur die Regale im Vorratsraum plünderte. »Bis morgen brauchst du nicht mehr gucken. Machen wir Schluss für heute!«

Ich mag ihn, er arbeitet zuverlässig, manchmal aber auch nur lässig. »Gut, Kumpel, machen wir.« Ich löschte das Licht, wir verließen die Kirche.

Der Schein der Straßenlaternen warf Lichtinseln auf den Platz, dazwischen herrschte Dunkelheit.

»Sieh zu, dass du die Kerzen loswirst«, riet ich ihm. »Und erinnere deine Auftraggeber daran, morgen im Büro zu bezahlen!«

Jeff tippte mit dem Zeigefinger an seine Nase und eilte davon. Ich musste schlafen, unbedingt.